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Montag, 16. Oktober 2000. Abend.

In einem Wiener Gasthaus saß ein Mann. Er hatte lange Haare und Brillen. Ein zweiter Herr kam an den Tisch. Er trug ein weißes, sauberes Hemd, ein schwarzes Sacko und eine elegante Hose. Auf dem Kopf hatte er eine Melone.

Der andere hatte ein Blatt Papier auf dem Gasthaustisch liegen und einen schwarzen Filzstift zum Schreiben zwischen den Fingern.

"Entschuldigen Sie," fragte der mit der Melone," was machen Sie denn hier?"

"Ja, was geht denn Sie das an?"

"Wissen Sie, ich beobachte Sie schon eine ganze Weile. Sie sitzen grantig da, warten auf Ihr Bier und kauen an ihrem Schreibstift herum."

" Ich muß etwas schreiben."

"Das Schreiben fällt Ihnen also schwer?"

"Manchmal schon, das heißt: Oft sogar. Und in diesem Falle ganz besonders."

"Was müssen Sie denn schreiben?"

"Etwas über meine Tochter. Für eine Internetseite. "

"Zu diesem Thema fällt Ihnen nichts ein?"

"Aber natürlich fällt mir zu meiner Tochter etwas ein. Es fällt mir zuviel ein. Ich weiß nicht, wo ich beginnen soll. Schon alleine die berühmte Geburt. Was da alles passiert ist. Außerdem soll das eine Geburtstagsgeschichte werden. Mir fällt aber auch Trauriges ein. Darf ich darüber auch schreiben?"

"Ja. Manchmal ist das Leben traurig. Da muß man durch."

"Wissen Sie, ihre Mutter und ich, wir sind geschieden..."

"Das ist natürlich traurig gewesen."

"Ja. Manchmal habe ich geheult."

"Und jetzt?"

"Jetzt funktioniert es so halbwegs. Jetzt sind meine frühere Frau und ich befreundet.

Wir verhalten uns relativ gesittet. Zumindest bemühen wir uns beide."

"Na bitte. Immerhin. Es gibt Fälle, wo das alles viel schlimmer ist. "

"Da haben Sie wahrscheinlich recht."

Der Kellner kam, stellt ein Krügerl Bier auf den Tisch. Den Herrn mit der Melone beachtete er überhaupt nicht.

Der Langhaarige hatte Durst. Er trank und fuhr fort:

"Meine Tochter warnt mich vor dem Bier. Aber nur eines, sagt sie. Andererseits geht sie auch ganz gerne in Gasthäuser. In Prag, wo ich viel Zeit verbringe, essen wir oft Gulasch mit Knödel in unserem Dorfgasthaus. Es liegt am Stadtrand. In dieser Gegend gibt es alte Häuser, große Bäume und Gärten. Vor meinem Wohnhaus steht eine Rutsche eine Schaukel und ein Klettergerüst für die Kinder. "

"Wie alt war denn Ihre Tochter, als Sie und Ihre Frau sich trennten?"

"So ungefähr drei. Sie ist gerade in den Kindergarten gekommen, als ich nach Prag übersiedelt bin. In Wien habe ich aber weiterhin eine kleine Wohnung. Vor dem Schulbeginn war meine Tochter, Aurea heißt sie, oft in Prag. Sie hat dort auch ihren ersten Blumenstrauß von einem Kavalier bekommen, auf einer Vernissage. So oft es geht besuche ich sie in Wien. Ich weiß sehr gut über ihr Leben Bescheid: Dienstag Rudioma, Mittwoch Killer, indisch tanzen, neue Videos und so weiter. Wir haben viele Reisen und Abenteuer erlebt. In Parks haben wir Theaterstücke gespielt. Märchen. Ich bekam immer die bösen Rollen. Und die Prinzen durfte ich auch spielen. Im Prater sind wir die große Rutsche hinuntergedüst."

"Ihre Tochter ist also ein braves Kind."

"Sie ist ein liebes Kind. Eine Person mit Herz. Brav? Im großen und ganzen schon. Manchmal viel zu schüchtern. Aber manchmal auch fürchterlich."

"Können Sie das näher beschreiben?"

"Ich sage nur: Schnuller, selbst gehen, lesen üben im Zug Das Schlafengehen, zum Beispiel., Da hätten Sie Szenen erleben können, sagenhaft. Und...die Schule."

"Problematisch?"
"Sehr. Aber ich denke mir: Irgendwann wird ihr das Schreiben und Lesen Spaß machen. Morgen wird sie elf Jahre alt. Und ich hab noch nichts aufgeschrieben."

"Ich will Sie nicht länger stören."

"Es war sehr nett, mit Ihnen zu sprechen.. Ich heiße Florian. Und Sie?"

"Die Stimme der Erinnerung. Auf Wiedersehen. Und schreiben Sie was schönes."

Der Herr mit der Melone erhob sich, ging zur Tür des Gasthauses hinaus. Niemand beachtete ihn, so, als wäre er unsichtbar.